Familie - Die Seifenblasen und ihre historischen Quellen

Tapete Digitalausdruck, 2012 (6000 cm x 320 cm)

Bild Vergissmeinnicht

Bild Vergissmeinnicht

Auf den Tapetenbahnen hat Florian Haas die Splitter seiner und unserer Vergangenheit in Seifenblasen verpackt, die sich wie Mikrosysteme spielerisch tänzelnd in die Lüfte erheben. Ahnte man nicht den Schrecken hinter manchen der fröhlichen Illustrationen, könnte man durchaus an eine Tapete in einem Kinderzimmer denken.

In dem Vorwort des zu der Arbeit erschienenen Katalogs „Die Seifenblasentapete und ihre historischen Quellen“ schreibt Florian Haas: Als ich mich vor zehn Jahren auf die Suche nach dem brüchigen Gewebe meiner Familiengeschichte begab, grub ich in den Archiven und las die Personalakten, Doktorarbeiten und Vorlesungen meiner Vorfahren. Und dann waren da noch die in alten Schuhkartons verwahrten Briefe und vergilbten Fotos. Die Kinderlocke meines Urgroßvaters Claudius fand ich zwischen den Blättern einer Speisekarte aus den unschuldigen Jahren vor dem Ersten Weltkrieg. Mein größter Fund aber war eine Mappe mit den Kinderzeichnungen meines Vaters und seiner Geschwister. In der Familie Haas ging man sorgsam mit Kunst um. Meine Großmutter Gretel Haas hatte alles, was ihre Kinder gemalt hatten, in einer grauen Mappe gesammelt. Meine eigenen Kinderzeichnungen fand ich in einer Ecke des Speichers, wo sie meine Eltern für mich aufgehoben haben.

Bild Zuschauer 2

Zuschauer Galerie Strelow, Frankfurt

Es hat Jahre gedauert, bis die Familientapete fertig war. Tagelang saß ich vor dem Monitor und setzte meine Protagonisten in einem Zeichenprogramm zusammen. Jedes Detail musste ich mit der Maus nachzeichnen. Mit meinen digitalen Werkzeugen konstruierte ich die Umrisse meiner Familienwelt. Schlank und klein ist die Datei meiner Tapete. Mit ihren gerade mal 24 MB entspricht sie dem Foto einer Digitalkamera. Kein Pixel hat sich je in meine Vektorenwelt verirrt. Über einen Regler kann ich die Bilder transparent stellen, bis sie im Hintergrund verschwinden. Das gefällt mir. Viel besser aber gefällt mir, dass ich meine Familie unendlich skalieren kann. Ich kann sie zu einem gigantischen Werbeplakat aufblasen, auf dem jedes noch so kleine Detail zu erkennen ist, oder zu einer Nussschale schrumpfen lassen, auf der man nur noch mit der Lupe etwas sehen kann.

Als ich meine Tapete 2012 das erste und einzige Mal in der Galerie Strelow in Frankfurt gezeigt habe, verwechselten viele Besucher die Arbeit mit einer Tapete für das Kinderzimmer. Das freute mich. Die glatte Oberfläche des Computerausdrucks hatte alles geschluckt.

Bild Claudius von Schwerin

Claudius von Schwerin

Meine Mutter, mein Vater, mein Großvater, mein Urgroßvater, sie alle sitzen in ihren Luftschiffen und tauchen aus der dunklen Vergangenheit auf. Sie sind dem Schwarzen Loch entkommen und fliegen auf der Tapete wie die Motten dem Licht entgegen. Doch wie sollte der Betrachter meiner Tapete jemals wissen, wer da an ihm vorbeischwebt? Wie sollte er jemals erfahren, wie alles miteinander zusammenhängt? Dieser Frage bin ich bisher elegant ausgewichen. Ich habe einen Comic ohne Sprechblasen gezeichnet. Meine Protagonisten blieben stumm.

»Wer schreibt, der bleibt« – ohne die Vorlesungen meines Urgroßvaters Claudius, ohne die Personalakte meines Großvaters Olaf, ohne die Manuskripte, Bücher, Nachrufe, Notizen, Briefe, Bruchstücke von Krankenakten, Stammbäumen und was mir sonst in die Hände gefallen ist, hätte ich mir kein Bild der Vergangenheit machen können. Ohne die Schriftstücke wäre von meinen Vorfahren nichts geblieben. Sie wären in den Weiten der Geschichte verschwunden.

Bild Gänseliesel

Gänseliesel

Das mit dem Schreiben ist aber so eine Sache bei mir. Ich hatte keine Lust, Lesen und Schreiben zu lernen. Genauer gesagt: Ich konnte nicht schreiben. Was ich schrieb, konnte man nicht lesen. Die Buchstaben waren vertauscht. Aus einem »p« wurde ein »q«, ein »m« wurde zu einem »w«, und so fort. Die Sonne verwandelte sich zu einer »Sone«, die nicht mehr richtig »schienen« wollte. Beim Diktat hatte ich nach spätestens zehn Sätzen hundert Fehler produziert. Der Lehrer brach entnervt die Korrektur ab und notierte darunter in roter Tinte: UNGENÜGEND. Ich war Legas-theniker, was aber Ende der Sechzigerjahre niemanden interessierte. »Wer nicht schreiben kann, kommt auf die Sonderschule«, hieß es. Durch die Intervention meines Vaters blieb mir dieses Schicksal erspart, und irgendwann nach vielen Jahren ging es dann doch mit dem Schreiben.

Bild Familienbuch

Familienbuch

Dass ich nach dem Abitur auf die Kunstakademie ging, um Malerei zu studieren, war eine Ausweichbewegung. Überhaupt hatte ich mein Abitur umsonst gemacht, denn auf die Kunstakademie kommt man auch über eine Begabtenprüfung. Ich wollte malen und nie wieder schreiben. Bilder brauchen keine Rechtschreibung. Malte ich als Kind ein Bild, ließen mich die Erwachsenen in Ruhe. Malen wurde aus irgendeinem Grund für sinnvoll erachtet. Es gab mir einen Freiraum. Malte ich ein Bild, war ich ganz bei mir. Das ist mir geblieben. Ich glaube, der einzige Grund Kunst zu machen, besteht für mich darin, in Ruhe gelassen zu werden. Noch immer genieße ich den Zustand der Selbstvergessenheit beim Malen.

Bild Alfred Haas

Alfred Haas

Der Weg führt mich zurück. Vom Bild zum Wort. Die verschlüsselte Syntax der Bildsprache auf meiner Tapete muss aufgelöst werden. Ich habe mich und meine Familie in Seifenblasen gepackt, die eigentlich in wenigen Sekunden platzen müssten. Doch auf meiner Tapete platzt keine Seifenblase. Meine Protagonisten sind in ihren kleinen Welten eingeschlossen. Bei mir löst sich niemand mehr einfach in Luft auf. Das habe ich ihnen verboten. Hier schleicht sich keiner davon. Alle schön hier geblieben. Jetzt erzählt jeder seine Geschichte. Und bitte auch die Geschichten, die man eigentlich gar nicht erzählen darf: »Denn über die Familie spricht man nicht« – zumindest nicht über die dunklen Seiten.

Bild Zuschauer

Zuschauer Galerie Strelow, Frankfurt